Bild
Podiumsdiskussion bei Focus PHSG

Die Erinnerung am Leben erhalten

Hundertausende Menschen waren in der Schweiz von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffen. Wie konnte es dazu kommen? Und welche Konsequenzen müssen daraus für die Gegenwart gezogen werden? Diesen Fragen widmete sich die Vortragsreihe «Focus PHSG» am Dienstag, 5. März.

Die Pädagogische Hochschule St.Gallen thematisiert im laufenden Frühlingssemester den Themenkomplex fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen auf vielfältige Weise: Im Hochschulgebäude Mariaberg gastiert noch bis zum 24. Mai die Ausstellung «Vom Glück vergessen», vom 3. bis zum 7. Mai bringen Studierende der PHSG das Stück «Das grausame Leben des Walther K.» auf die Bühne. Und am vergangenen Dienstag, 5. März, wurde im Rahmen der Veranstaltungsreihe Focus PHSG der Kontext zu Ausstellung und Musical vertieft.

Vom moralischen Versagen zur psychiatrischen Störung
Zu Beginn gab Mirjam Janett von der Universität Bern einen Überblick über die Unterbringung von Kindern in Heimen und Psychiatrien um die 1960er-Jahre. Hundertausende Menschen – zumeist Armutsbetroffene – waren in der Schweiz von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen betroffen. Familien, die in den Augen der Gesellschaft als disfunktional galten, wurden im Zuge präventiver Massnahmen nach dem Grundsatz «vorbeugen ist besser als heilen» auseinandergerissen: Arbeitslose Väter, ledige Mütter, Mädchen, die Umgang mit dem anderen Geschlecht pflegten, oder Jungen, die die Schule schwänzten, gerieten in die Mühlen der Behörden. Dabei wurden die Moral als Begründung zunehmend von einer Pathologisierung abgelöst. «Zuvor begründeten die Behörden eine Kindeswegnahme vorwiegend mit angeblicher Unsittlichkeit, Liederlichkeit oder auch sexueller Haltlosigkeit», sagte Mirjam Janett. Später seien hingegen – besonders im urbanen Raum – Pathologien wie Psychopathie, Schizophrenie oder Schwachsinn herbeigezogen worden. Medizinische Argumentationslinien folgten laut Janett nicht zuletzt ökonomischen Überlegungen, da sie es erlaubten, die Kosten für Massnahmen der Invalidenversicherung aufzubürden.

Auch die Ausstellung ist Theater
Im Anschluss an Janetts Kurzvortrag diskutierten Mirjam Janett, Karin Bucher, die Szenografin der Ausstellung «Vom Glück vergessen», Björn Reifler, Dozent und Autor des PHSG-Musicals «Das grausame Leben des Walther K.» und Heidrun Neukamm, Studiengangsleiterin Kindergarten- und Primarstufe an der PHSG, welche Mittel geeignet sind, die Erinnerung an dieses leidvolle Kapitel der Schweizer Geschichte am Leben zu erhalten. Ein Musical eigne sich mit seinen verschiedenen emotionalen Zugängen über Gesang, Tanz und Theater hervorragend, um das Thema anzugehen, sagte Björn Reifler. Im Musical «Das grausame Leben des Walther K.» würden – aufgehängt an einem Einzelfall – verschiedene Aspekte des Themas aufgegriffen. Für Karin Bucher trägt auch die von ihr gestaltete Ausstellung Züge eines Theaterstücks. Im Zentrum stehen die Erzählungen von Zeitzeug:innen, die in Szene gesetzt werden mussten. Aus Karton gestaltete Karin Bucher gewissermassen das Bühnenbild für diese Erzählungen. Dieses Material ist nicht nur einfach zu bearbeiten, sondern versinnbildliche auch die Armut der betroffenen Familien.

Dass die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen nun an der PHSG so breit thematisiert werden, begrüsst Karin Bucher. «Die Jungen haben keine Vorstellung davon, wie kurz die Geschichte unseres Wohlstandes ist.» Ausserdem sei es gerade für angehende Lehrpersonen lohnend zu lernen, wie eine Geschichte gut erzählt werden könne. Dem pflichtete Heidrun Neukamm mit Blick auf die kommende Musicalproduktion bei: «Die 40 Studierenden, die im Musical freiwillig mitwirken, erhalten einen ganz anderen Zugang zur Geschichte.» Darüber hinaus verbesserten sie auch ihre Auftrittskompetenz. Die Verbindung der Ausstellung mit dem Musical schaffe eine Grundlage, um das Thema der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen auch wirklich zu verstehen.

Ausstellung «Vom Glück vergessen»
Bis 24. Mai 2024, Mo–Fr, 08.00–18.00, Raum M256, Hochschulgebäude Mariaberg Rorschach