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Eine Frau und ein Mann essen Suppe

Trinationales Projekt «Zug in die Freiheit»

Am 5. Februar 1945 verliess ein Transport mit 1200 KZ-Häftlingen Theresienstadt. Diese erreichten am frühen Morgen des 7. Februar 1945 die Schweiz und wurden im damaligen Primarschulhaus Hadwig in St. Gallen untergebracht. Nur ganz wenige von ihnen durften bleiben, denn grundsätzlich verlangte die Schweiz, dass sie so schnell wie möglich weiterreisen sollten.

Die Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte der Pädagogischen Hochschule St.Gallen (PHSG) erachtet es als Verpflichtung, an dieses Stück Weltgeschichte zu erinnern. Dasselbe Ziel hat die Mamlock Foundation – von Generation zu Generation – L’Dor Vador. Daher haben die Mamlock Foundation und die Fachstelle das internationale Forschungs- und Public-History-Projekt «Zug in die Freiheit» initiiert, an dem als weitere akademische Partnerinnen die Freie Universität Berlin sowie die Karls-Universität Prag partizipieren.

Struktur des Projekts
Das auf vier Jahre ausgelegte Gesamtprojekt unterteilt sich in eine einjährige Pilotstudie und in vier anschliessende Teilprojekte. Geplant sind die geschichtswissenschaftliche Erforschung der Befreiungsaktion, die Erstellung einer Website sowie die didaktische Umsetzung der Thematik. Zudem werden verschiedene Ausstellungen konzipiert. Begleitet wird das Forschungs- und Public-History-Projekt durch die Partizipation am wissenschaftlichen Diskurs. Die Teilnahme an oder die Durchführung von Tagungen und Publikationen stellen Verbindungen zur scientific community her und sorgen für wichtige wissenschaftliche Inputs.
Die 2022 angelaufene einjährige Pilotstudie beinhaltet zentrale Vorarbeiten für die weitere Projektumsetzung. Aktuell ist sie für Deutschland und die Schweiz über Drittmittel finanziert. Für die vier Teilprojekte der Hauptphase hat der komplexe Prozess zur Einwerbung von Drittmitteln begonnen. 

Pilotstudie
Vier Aspekte prägen die Pilotstudie: Die Projektpartner:innen sondieren erstens die Aktenlage zur Befreiungsaktion in ihren jeweiligen Ländern. Zweitens digitalisieren Studierende und die am Projekt partizipierenden Dozierenden der PHSG die Akten, welche die Schweizerischen Behörden zu allen 1200 befreiten KZ-Häftlingen erstellt haben. Diese befinden sich im Bundesarchiv in Bern. Der umfangreiche Aktenbestand wird gesichtet und kriteriengeleitet verschlagwortet. Die daraus entstehende Datenbank wird individuelle wie auch kollektive Aussagen zu den befreiten Jüdinnen und Juden erlauben. Zum dritten werden Studierende an den Hochschulen aller drei Partnerländer über Lehrveranstaltungen, Praktika und als studentische Mitarbeitende in das Projekt integriert. Sie erforschen und erarbeiten Biographien zu ausgewählten Personen, recherchieren weitere Archivbestände und entwerfen didaktische und räumliche Ausstellungskonzepte. Die Studierenden stehen dabei hochschulübergreifend in Kontakt, die Arbeitsprozesse der Seminare sind miteinander verschränkt. Die anfallenden Produkte sind für die weiteren Teilprojekte direkt nutzbar. Die Teilnehmenden der Seminare aus der Schweiz, Deutschland und Tschechien treffen sich viertens mit dem Projektteam Ende August 2022 zu einer Summerschool. Dort diskutieren und vertiefen sie ihre Erkenntnisse. Zugleich werden sie in dieser Woche alle Standorte besuchen und auch die jeweiligen Erinnerungsorte kennenlernen.

Teilprojekt 1: Geschichtswissenschaftliche Erforschung der Befreiungsaktion
Das Teilprojekt 1 umfasst die historische Erforschung der Befreiungsaktion, basierend auf den ausfindig gemachten Aktenbeständen in den drei Partnerländern. Hierzu sind umfangreiche Recherchen in Aktenbeständen verschiedener Archive in Deutschland, der Schweiz und Tschechien nötig. Zugleich gilt es, die Befreiungsaktion breit zu kontextualisieren und dadurch in den Forschungsstand zu integrieren. Die an den drei Hochschulstandorten arbeitenden Historiker:innen erarbeiten dabei Grundlagentexte, auf die sich später die Spezialist:innen für die öffentliche und schulische Geschichtsvermittlung stützen können. Selbstredend wird auch beabsichtigt, Erkenntnisse dieses Forschungsteils an Tagungen zu präsentieren und wissenschaftliche Publikationen zu verfassen.

Teilprojekt 2: Website als Mittel öffentlicher Geschichtsvermittlung und Ort transnationaler Erinnerung 
Die mehrsprachige Website stellt produktmässig die Klammer des Gesamtprojektes dar. Sie vereint die Erkenntnisse aus den erforschten Themenbereichen mit dem Aspekt eines (virtuellen) Erinnerungsortes und einer Plattform für Lehrpersonen. Die technische Umsetzung und Pflege der Website erfolgt durch das renommierte «Malach Center for Visual History» der Karls-Universität Prag.

Teilprojekt 3: Unterrichtsmaterialien
Den geplanten Unterrichtsmaterialien für die drei beteiligten Länder kommt eine zentrale Bedeutung für den Transfer der Ergebnisse in die Gesellschaft zu. Anhand der Befreiungsaktion und deren Kontextualisierung ist es möglich, verschiedene Themenbereiche in den Schulen umzusetzen. Über die Vermittlung dieser Wissensbestände hinaus sind die Materialien auf die Förderung von Kompetenzen im Bereich Demokratiebildung/Politische Bildung ausgerichtet, zudem werden aktuelle weltpolitische Ereignisse und gesellschaftliche Entwicklungen in einen Fachdiskurs einbezogen.

Teilprojekt 4: Ausstellungen
Ziel ist es, dass mehrere Ausstellungsformate im Sinne öffentlicher Geschichtsvermittlung die Thematik der Befreiung von 1200 KZ-Häftlingen aus Theresienstadt in den drei am Projekt beteiligten Ländern aufgreifen. Sie machen den Projektgegenstand einer breiteren Öffentlichkeit bekannt und befördern dadurch die transnationale Erinnerung. Einen authentischen Erinnerungsort stellt das 1945 als Desinfektionslager verwendete ehemalige Primarschulhaus Hadwig dar. Vor dem Gebäude sollen Informationstafeln auf die Geschichte des Gebäudes hinweisen. Via QR-Codes wird dabei auf die auf der Website hinterlegten Informationen verwiesen. Für Tschechien sind eine Integration der Thematik in die Ausstellungen in der Gedenkstätte Theresienstadt sowie mobile Erinnerungsorte entlang der Route des Transports intendiert. Auch in Deutschland sollen Informationen in bestehende Gedenkstätten integriert oder innerhalb dieser als eigenständige Erinnerungsorte neu geschaffen werden. In Frage kommen insbesondere bestehende Gedenkstätten an Abgangsorten für Deportationszüge.

Das Projektteam nach Institutionen

Pädagogische Hochschule St. Gallen

Thomas Metzger ist Professor für Geschichte und Co-Leiter der Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Forschungsschwerpunkte mit Bezug zum Projekt: Kultur-, Sozial- und Ideengeschichte des Antisemitismus, schweizerische Flüchtlingsgeschichte 1933-1945, Geschichte des Faschismus. 

Johannes Gunzenreiner ist Professor für Geschichte und Politische Bildung und Co-Leiter der Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen und Leiter des Regionalen Didaktischen Zentrums in Gossau (Schweiz).

Helen Kaufmann ist diplomierte Sekundarlehrerin mit zusätzlichem Master in Geschichtsdidaktik und öffentlicher Geschichtsvermittlung und seit 2022 Doktorandin an der Fachstelle Demokratiebildung und Menschenrechte der Pädagogischen Hochschule St. Gallen.

Freie Universität Berlin

Martin Lücke ist Professor für Didaktik der Geschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Wissenschaftlicher Leiter des Margherita-von-Brentano-Zentrums für Geschlechterforschung der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte mit Bezug zum Projekt: Shoah und historisches Lernen, empirische Geschichtskulturforschung, Public History.

Meike Dreckmann-Nielen ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Didaktik der Geschichte an der Freien Universität Berlin. Ihr Forschungsinteresse gilt den Dynamiken von Erinnerungskultur und der Public History.

Sonja Hugi ist freiberufliche Historikerin und Grafikerin und ist in diversen Projekten in der ausserschulischen politischen Bildungsarbeit tätig. 

Karls-Universität Prag

Kateřina Králová is an Associate Professor of contemporary European history and the Head of the Department of Russian and Eastern European Studies at Charles University, Prague. In her research she focuses on reconciliation with the Nazi past, post-conflict societies, the Holocaust, the Greek Civil War and historical migration.

Mamlock Foundation
Michael Mamlock ist Mitinitiator des Projekts, Angehöriger eines Passagiers des „Zug in die Freiheit“, offizieller Projektbotschafter in der Schweiz, Tschechien und Deutschland, Nachfahre von Holocaustüberlebenden und Zeitzeuge der „second generation“, Internationales Fundraising. Michael Mamlock ist Kaufmann in langjähriger selbständiger Tätigkeit mit Erfahrung von Projektentwicklungen. Seit vielen Jahren gleichzeitig tätig als Initiator für verschiedene Projekte zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus und der Shoah. Gründungsmitglied des 2008 errichteten Jüdischen Forums für Demokratie und gegen Antisemitismus(JFDA) der jüdischen Gemeinde zu Berlin. Gründungsmitglied und Vorstandsvorsitzender des „Fördervereins Jüdischer Friedhof Berlin-Weißensee e.V.“ in den 1990er Jahren. Initiator und Mitwirkung an verschiedenen Ausstellungen und Projekten, z.B. an der Finanzierung zur Restaurierung von mehreren Grabfeldern des Jüdischen Friedhofs Berlin-Weissensee durch Spenden aus Israel.