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Ein Kleinkind mit einer Betreuungsperson in einer Kita

Chancengerechtigkeit für Kinder braucht Qualität in der Betreuung

Rund 50 Personen haben sich am Donnerstagabend, 12. Mai 2022, in der Aula des Hochschulgebäudes Hadwig der Pädagogischen Hochschule St.Gallen (PHSG) eingefunden. Die Gemeinnützige Gesellschaft des Kantons St.Gallen (GGK) hat in Kooperation mit der PHSG zur Focus-Veranstaltung zum Thema «Nicht einfach «Kinderhüte» sondern «frühe Bildung»: Chancengerechtigkeit braucht Qualität» eingeladen.

Prof. Dr. Larissa Schuler, Studiengangsleiterin Sekundarstufe I, begrüsste die Gäste. Neben GGK-Mitgliedern sind auch viele Behördenvertreter:innen sowie im Bildungsbereich tätige Personen der Einladung gefolgt. «Mit Prof. Dr. Franziska Vogt, Leiterin Zentrum Frühe Bildung der PHSG, dürfen wir eine ausgewiesene Expertin zum Thema des heutigen Abends begrüssen», sagte Larissa Schuler, bevor sie das Wort an die Referentin des Abends gab.

Franziska Vogt freute sich über das vielseitig zusammengesetzte Publikum. «Der Besuch einer Kita erhöht die Bildungschancen, besonders für Kinder aus benachteiligten Familien – dies zeigen internationale Forschungsergebnisse. Dabei ist die pädagogische Qualität entscheidend: Kinder sollen nicht nur versorgt werden. Sie sind in den ersten Lebensjahren auf verlässliche Beziehungen und kognitiv anregende Lerngelegenheiten angewiesen», sagte Vogt eingangs ihres Referats. Die pädagogische Qualität werde jedoch kaum systematisch eingefordert. Im Vergleich zu anderen europäischen Ländern sei der Zugang zu früher Bildung in der Schweiz erschwert. «Ich möchte Ihnen heute Abend aufzeigen, dass es einen Paradigmen-Wechsel braucht, damit das UN-Kinderrecht auf hochwertige Bildung auch für die ersten Lebensjahre gewährleistet wird» so Vogt weiter.

Wie war es früher?
Zunächst aber warf sie einen Blick zurück, in die Zeit zur Mitte des 19. Jahrhunderts und stellte einige Vergleiche an. Was war damals anders, was ist ähnlich geblieben? Damals wurden Einrichtungen eröffnet, wo Mütter ihre Kinder in Betreuung geben konnten, wenn sie in einer Fabrik arbeiteten, sogenannte Bewahranstalten. Der «Kindergarten», wie ihn Fröbel konzipierte, wies bereits zu jener Zeit Parallelen zum Kindergarten auf, wie wir ihn heute kennen, so beispielsweise der Fokus auf die kindliche Entwicklung und das Spiel. Holzspielsachen in verschiedenen Formen, welche die Idee der Spielgaben von Fröbel aufnehmen, sind auch heute noch fester Bestandteil in Kitas und Kindergärten.
Neben historischen Kontinuitäten gibt es auch einen starken Wandel. Heute werden Kitas immer mehr als Bildungsinstitutionen verstanden, nicht mehr nur als Ort, wo man Kinder für eine gewisse Zeit «abgeben» kann. Betreuung, Bildung und auch Erziehung sind eng miteinander verbunden. Erkennbar ist dies an Curricula, wie dem «Orientierungsrahmen für frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung» oder den «Erfahrungsfeldern und Beobachtungspunkte für den Frühbereich» der Stadt Zürich. Der Orientierungsrahmen ist in der Schweiz sehr breit anerkannt, hat jedoch keine Verbindlichkeit, anders als beispielsweise der Lehrplan, der für die Volksschule verbindlich ist. Dennoch sind Curricula sehr wichtig, da sie umschreiben, was ein kleines Kind braucht, um sich gut entwickeln zu können. Es geht hierbei nicht um eine Benotung oder Bewertung der Kompetenzen eines Kindes, sondern darum, den Kindern anregende Lerngelegenheiten zu bieten und die betreuende Fachperson in ihrer Arbeit zu unterstützen.

Ein Blick in die Forschung
Im zweiten Teil des Referats ging Franziska Vogt auf die Forschungsbefunde zur Bedeutung früher Bildung ein. «Zahlreiche nationale und internationale Studien zeigen, dass der Besuch einer Kita keine generellen Nachteile mit sich bringt, sondern eher sogar Vorteile für die Kinder», konstatierte Vogt. So konnte in Deutschschweizer Studien festgestellt werden, dass beim Vergleich zwischen Kindern aus Familien, die ausschliesslich in der Familie betreut werden und Kindern, die mindestens zwei Tage in einer Kita betreut werden, keine Unterschiede in kognitiven, motorischen, sprachlichen und sozialen Kompetenzen bestehen. Untersucht wurden hierbei Familien mit hohem Sozial- und Bildungsstatus. In zahlreichen internationalen Studien konnte gezeigt werden, dass sich für Kinder aus benachteiligten Familien der Besuch einer Kita eher positiv auf die Sprachentwicklung und auf die sozialen Kompetenzen auswirkt. Gut abgestützt, für die Schweiz wie auch international, ist der positive Effekt des Kita-Besuchs auf die Kenntnisse in der Bildungssprache für Kinder, die zuhause eine andere Erstsprache erlernen. «Der Nutzen ist jedoch von der pädagogischen Qualität der Kita abhängig», womit Franziska Vogt zum dritten Teil ihres Referats überleitete.

Qualität in der frühen Bildung
Qualität setzt sich aus mehreren Faktoren zusammen. Zunächst einmal müssen Familien überhaupt Zugang zu Angeboten haben, damit eine Wirkung entstehen kann. Der Zugang ist in der Schweiz je nach Region und Gemeinde sehr unterschiedlich, das Angebot aber insgesamt zu gering. Die Kinderbetreuung in einer Kita ist in der Schweiz im europäischen Vergleich zudem für die Eltern teuer. Dies wiederum wirkt sich auf die Zugänglichkeit aus. Vogt ging weiter auf die Unterscheidung zwischen Struktur- und Prozessqualität näher ein. Strukturqualität bezieht sich auf zentrale Faktoren wie adäquat ausgebildetes Personal und Gruppengrösse.
Im Bereich Prozessqualität geht es darum, wie die Interaktion zwischen Fachperson und Kind stattfindet. Wird die Sprache aktiv gefördert, geschehen gemeinsame, dialogische Denkprozesse, besonders im Spiel? Die Interaktion zwischen Fachperson und Kind ist essenziell und längere Dialoge fördern die sprachliche Entwicklung der Kinder. Sie sieht die Weiterbildung der Fachpersonen als wesentlich, um die Prozessqualität zu erhöhen. Auch der Familieneinbezug spielt eine grosse Rolle. Aus internationalen Befunden geht hervor, dass ein positiver Zusammenhang zwischen Einbezug der Eltern und dem Kompetenzzuwachs der Kinder besteht. In einem wissenschaftlich evaluierten Projekt in Deutschland, dem Projekt «chancenreich», zeigte sich, dass Anreize für die Teilnahme an Elternbildung funktionieren. Die Eltern können insgesamt zweimal einen Bonus von 250 Euro erhalten, wenn sie die Vorsorgeuntersuchungen wahrnehmen, das Kind spätestens mit drei Jahren in die Kita anmelden und selber an Elternbildung teilnehmen.
«Externe Qualitätssicherung durch Behörden fokussiert fast ausschliesslich auf Aspekte der Strukturqualität. Für die Qualität in der frühen Bildung ist die Prozessqualität jedoch sehr wichtig», sagte Franziska Vogt. Diese werde aber kaum überprüft, da es dazu keine rechtlichen Grundlagen gäbe. Es benötige nach Vogt nicht nur Anschubfinanzierung und Ausbau des Angebots, sondern auch Auf- und Ausbau der Qualität in den Institutionen. Durch stärkere öffentliche Finanzierung könnte auch mehr Monitoring der pädagogischen Qualität stattfinden.

Fazit und Diskussion
Abschliessend fasst Franziska Vogt nochmals die wichtigsten Punkte zusammen: Eine qualitativ gute frühe Bildung erlaube Chancengerechtigkeit für alle Kinder. Auf der Grundlage der Forschung gehe hervor, dass die Zusammenarbeit mit den Familien wichtig und zu stärken sei. «Es braucht einen Paradigmenwechsel vom Paradigma der Betreuung für die Erwerbstätigkeit der Eltern zum Paradigma des Rechtes der Kinder auf frühe Bildung von hoher Qualität. Dies führt zu Inklusion und Chancengerechtigkeit für alle Kinder», schliesst sie.

Larissa Schuler moderierte die anschliessende Diskussion. Es wurden spannende Fragen gestellt, die Franziska Vogt beantwortete, aber auch interessante Inputs und eigene Erfahrungen von Fachpersonen aus dem Publikum geteilt. Schliesslich ergriff Prof. Johannes Gunzenreiner, Präsident der GGK, das Wort. Er bedankte sich herzlich bei Franziska Vogt für das Teilen ihres Fachwissens und die gegebenen Denkanstösse und lud alle Besuchenden dazu ein, den Abend beim Apéro auf der Terrasse ausklingen zu lassen.

GGK Forum
Neben der finanziellen Unterstützung sozial-integrativer Projekte hat die GGK seit jeher die statutarische Pflicht, «die geistige Volkswohlfahrt» zu fördern. Zu diesem Zweck findet zwei bis dreimal jährlich – in Zusammenarbeit mit der PHSG – die öffentliche Veranstaltungsreihe GGK-Forum statt, das zu wichtigen staats- und gesellschaftspolitischen Gegenwartsfragen eine geistige Auseinandersetzung in der breiten Öffentlichkeit anstösst.